K. Marti: Notizen und Details 1964 −2007

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Titel
Notizen und Details 1964 −2007. Beiträge aus der Zeitschrift Reformatio


Autor(en)
Marti, Kurt
Herausgeber
Leibundgut, Hector; Klaus, Bäumlin; Bernard, Schlup
Erschienen
Zürich 2010: Theologischer Verlag Zürich
Anzahl Seiten
1422 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Emil Erne

Kurt Marti, 1921 in Bern geboren, war daselbst von 1961 bis 1983 Pfarrer an der Nydeggkirche. Eine Professur für Homiletik an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Bern scheiterte 1972 infolge der Ablehnung durch den Regierungsrat des Kantons Bern aus politischen Gründen. Fünf Jahre später verlieh ihm die Universität den Ehrendoktortitel. Marti ist vor allem als Schriftsteller bekannt geworden. Seine Gedichte, in denen er teils nachdenklich aus theologischer Warte, teils spielerisch und witzig und teils in Kombination von beidem zum Zeitgeschehen und zum Leben im Allgemeinen pointiert Stellung nimmt, gehören zum unverzichtbaren Kulturgut der Schweiz (z.B. Rosa Loui, 1967; Leichenreden, 1969). Mit seinen Texten «ir Bärner Umgangsschprach» ist er einer der bedeutendsten Vertreter der neueren Mundartliteratur und wurde mehrfach ausgezeichnet.

Daneben publizierte Kurt Marti zahlreiche Prosabände sowie essayistische und theologische Schriften. Von 1964 bis 2007 verfasste er regelmässig Beiträge für Reformatio − Zeitschrift für Kultur, Politik, Religion. Nachdem bereits 1990 und 2001 zwei Auswahlbände daraus erschienen sind, liegt nun im Theologischen Verlag Zürich eine Gesamtausgabe der 254 nach Jahrzehnten gegliederten Texte vor. Herausgeber sind Hektor Leibundgut und Klaus Bäumlin, beides ehemalige Redaktoren der 2009 eingestellten Zeitschrift, sowie Bernard Schlup, Zeichenlehrer, der den Band als Brevier mit Lesebändchen dezent schwarz-grau-rot gestaltet hat. Zwar verleitet das schöne Buch dazu, täglich darin zu blättern – wie ja auch die Kolumnen ursprünglich für den Tag geschrieben worden sind −, der Umfang von 1422 Seiten und das Gewicht von 1,2 kg schränken die Handlichkeit allerdings ein. Obwohl es sich um eine dritte, durchgesehene Auflage handelt, sind noch einige Druckfehler stehen geblieben; im abschliessenden Titelverzeichnis stimmen einzelne Seitenzahlen nicht.

Unter dem bescheidenen, Ludwig Hohls Werken Nuancen und Details (1939) und Notizen (1944) nachempfundenen Titel Notizen und Details, wie die Rubrik in der Reformatio seinerzeit hiess, künden die Herausgeber im Vorwort «ein Panorama sondergleichen » an − und sie versprechen nicht zu viel. Es ist im Rahmen dieser Rezension nicht möglich, den beeindruckenden inhaltlichen und gedanklichen Reichtum der Beiträge, die zwischen zwei und elf Seiten aufweisen, auch nur annähernd auszuloten. Die Themen reichen vom familienfeindlichen Wohnungsbau, dem «Fremdarbeiterproblem» und dem Altwerden in der Stadt über das Auto als «Opium des Volkes», den Lernprozess des TV-Anfängers und das Wesen von Todesanzeigen bis zur Bedeutung des Wörtchens «und», dem aufrechten Gang «durch mörderische Zeiten» und zu «Notizen, die Ewigkeit betreffend».

Stellungnahmen und weiterführende Reflexionen lösten welthistorische Ereignisse der letzten fünf Jahrzehnte aus, so zum Beispiel die gescheiterten Versuche zu einem demokratischen Sozialismus in der Tschechoslowakei und in Chile, der Vietnamkrieg, die Kriege auf dem Balkan und die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA, wobei vielfach die entsprechenden Reaktionen in der Schweiz im Zentrum stehen. Auch viele Ereignisse, die die Schweiz intern bewegten, finden ihren Widerhall in Martis Rubrik: die Landesausstellungen, das Jura-Problem, die Aufarbeitung der Schweizer Geschichte, eidgenössische Initiativen.

Nicht überraschend greift Kurt Marti zwischendurch theologische Gegenstände auf, die aber vielfach mit allgemeinmenschlichen Fragen zusammenlaufen. Neben der Praxis des Predigens und Betens, dem Katholizismus, den Psalmen Ernesto Cardenals und dem christlich-marxistischen Dialog mit Konrad Farner beschäftigen ihn unter anderem die feministische Theologie, die «Theologie der Befreiung» und allgemein die Politisierung von Theologie und Kirche.

Ebenso sehr interessieren ihn literarische Themen, wie etwa die Erneuerung der Mundartdichtung, die moderne Lyrik generell, die Vergabe von Literaturpreisen und Formen eines «staatlichen Kunstdirigismus». Gerne bespricht er zeitgenössische, vor allem deutschsprachige Autoren und Autorinnen, aus der Schweiz unter anderem Walter Vogt, Ludwig Hohl, Max Frisch, Niklaus Meienberg, Kuno Raeber und Hans Rudolf Hilty. Friederike Mairöcker bezeichnet er als die wichtigste Figur in der deutschen Poesie der Gegenwart, Stefan George als denjenigen, der ihn früh beeinflusste. Ausser dem umstrittenen, «frag-würdigen» Ernst Jünger handelt es sich bei den Dargestellten vorwiegend um Literaten, die mit neuen Ideen auftraten und sich als «Nonkonformisten» zum damaligen «Establishment» querstellten.

Viele der von Marti geschilderten Persönlichkeiten spiegeln Facetten seiner eigenen Person wider. Stets erweist er sich als Demokrat, der entschieden für die Grundfreiheiten eintritt und alle Formen des «Meinungskonformismus», des Verschleierns, Schönredens und Herunterspielens, des Verschweigens und Vergessens unliebsamer Wahrheiten brandmarkt, der kritisch denkt und sich nicht scheut, sich durch dezidierte Stellungnahmen, etwa in den Debatten um Atomwaffen- und Waffenausfuhrverbote, den Bau von Atomkraftwerken oder um Dienstverweigerung und Zivildienst, zu exponieren. Schonungslos deckt er den «Gesinnungs- und Konformitätsdruck» aus der bis Ende der 1980er-Jahre latent vorhandenen Abwehrhaltung gegenüber dem Kommunismus auf. Konsequent setzt er sich für eine wirklich humane und demokratische Gesellschaft ein, was ihm unter anderem den Vorwurf eintrug, gegen «unseren» Staat zu sein. Mit untergründigem Humor zitiert er das Gutachten eines DDR-Verlages, das ihm als Grundhaltung einen «neutral-toleranten Pluralismus» und damit einen Widerspruch zur «marxistisch-leninistischen Gesellschaftsauffassung» attestierte. (S. 651)

Als Pfarrer sieht er sich nicht als «Staatsfunktionär», der die Kirche als Dienstleistungsbetrieb zur Aufrechterhaltung des Kapitalismus oder gar als «ideologischen Wurmfortsatz des Staatsapparates» (S. 560) versteht, sondern als mündigen Staatsbürger und redlichen Christen. Titel wie «Menschenliebe politisch» oder «Appell für Toleranz und Freiheit » könnten über der ganzen Aufsatzsammlung stehen. Dass die Politik von denen bestimmt wird, die die wirtschaftliche Macht haben, wird nach dem Zusammenbruch des Kommunismus deutlicher beklagt. Marti prangert die neoliberalen Wirtschaftsfundamentalisten an, für die «Freiheit» primär freies Unternehmertum ohne staatliche Auflagen bedeutet und die dem «Götzen Markt» huldigen. Europa erscheint unter diesem Blickwinkel als «Staaten-Verein von Geschäftemachern, denen der eigene Profit über alles geht». (S. 1021)

Ausgangspunkte von Kurt Martis Reflexionen sind häufig Zeitungsberichte, neu erschienene Bücher oder die Rezension eines Buchs, ein aktueller Anlass, aber auch eine Menukarte oder eine Mauerinschrift. Eindrückliche Buchbesprechungen dokumentieren die breitgefächerte Belesenheit des Autors. Modewörter oder Wendungen, die oberflächlich und gedankenlos benutzt werden («Prahl- und Hohlwörter», S. 848 ff.), oder Wortschöpfungen wie «Kulturschaffende» (S. 1029) und «Endverbraucher» (S. 1092) reizen ihn, die tieferen Bedeutungsschichten auszuloten und nicht selten den gegenteiligen Sinn des Gemeinten blosszulegen. Dazwischen eingestreut sind Reisenotizen und Impressionen aus der DDR, aus Portugal, dem Südtirol, von Glasgow, Rom und nicht zuletzt aus der Bundesstadt Bern − gelungene kleine Porträts eines wachen Spaziergängers.

Kurt Marti erweist sich als Seismograf für die Befindlichkeit der Schweiz in der zweiten Hälfte des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Man liest in seinen gesammelten Kolumnen durchwegs mit Interesse, meist mit hohem Gewinn, oft auch amüsiert, und bewundert immer wieder die Raffinesse, wie sich in seiner klaren, flüssigen Sprache die Einfälle, Überlegungen, Fragen, Verweise und Zitate nahtlos aneinanderreihen
und wie sich scheinbar zwanglos das eine aus dem anderen ergibt. Was leicht daherkommt, ist wohl nicht selten das Ergebnis einer langen und «bis zur Erschöpfung oder Verzweiflung» reichenden Suche nach dem richtigen Wort, wie er einmal beiläufig gesteht. (S. 1252) Wo er als Mahner von Atomverseuchung, Umweltbelastung, Zersiedelung und anderem, von Menschen verursachtem Unheil spricht, stellt sich einem bei der Lektüre mitunter die erschreckende Erkenntnis ein, dass die Zustände seither kaum besser geworden sind. Die meisten Kolumnen könnte Kurt Marti auch heute noch schreiben. Von daher rührt die Aktualität seiner Texte. Sie haben Bestand als kleine, in sich geschlossene Kunststücke eines aufmerksamen Beobachters, der sich so seine Gedanken macht, wahrlich über Gott und die Welt.

Zitierweise:
Emil Erne: Rezension zu: Marti, Kurt: Notizen und Details 1964 −2007. Beiträge aus der Zeitschrift Reformatio. Mit dem Verein Reformatio hrsg. Von Hektor Leibundgut, Klaus Bäumlin und Bernard Schlup. 3., durchges. Aufl. Zürich: Theologischer Verlag 2010. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 76 Nr. 2, 2014, S. 70-73.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 76 Nr. 2, 2014, S. 70-73.

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